Im Dezember 2024 fand in Den Haag eine der bedeutendsten Gerichtsanhörungen der Geschichte statt: Fast 100 Staaten und interstaatliche Organisationen diskutierten vor dem Internationalen Gerichtshof über die rechtlichen Verpflichtungen von Ländern im Klimaschutz. Dabei ging es um die Frage, wie weit diese Pflichten reichen und welche juristischen Konsequenzen mangelnder Klimaschutz nach sich ziehen könnte. Zahlreiche Medien berichteten (Spiegel, SZ, Klimareporter).
Seit mehr als vier Jahren ist unsere langjährige Botschafterin und Mitarbeiterin Jule Schnakenberg, 26 Jahre, an diesem wegweisenden Klimafall beteiligt. Derzeit absolviert sie ihren Master in International Human Rights Law an der University of Oxford und bringt ihr Wissen aktiv in die Arbeit für Klimagerechtigkeit ein. Im Interview gibt sie Einblicke in ihre Erfahrungen mit dem Verfahren und erläutert die Rolle, die sie dabei übernimmt.
Hi Jule! Stell dich doch kurz vor und erzähl uns, welche Rolle du im Klimaverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof spielst.
Bereits seit 2009, also seit meinem elften Lebensjahr, bin ich mit Plant-for-the-Planet als Botschafterin für Klimagerechtigkeit aktiv. Seit Oktober 2020 engagiere ich mich zusätzlich bei World’s Youth for Climate Justice, einer globalen Kampagne, die erfolgreich ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zur Klimakrise und Menschenrechten initiiert hat. Die Initiative geht auf die Pacific Island Students Fighting Climate Change (PISFCC) zurück, einen Zusammenschluss engagierter Studierender der University of the South Pacific, deren Leben von den Klimafolgen bereits massiv geprägt ist. Das Gutachten soll nun die Verpflichtungen der Staaten klären, die Rechte heutiger und künftiger Generationen vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. In den letzten Jahren haben wir dafür intensive Lobbyarbeit geleistet, Veranstaltungen organisiert und Kommunikationsmaterialien entwickelt.
Was bedeutet es für dich persönlich, an diesem historischen Verfahren teilzunehmen?
Für mich ist es besonders beeindruckend, wie alles mit einer Bottom-Up-Bewegung begann – das Studierende aus dem pazifischen Raum die Entschlossenheit hatten, die Klimakrise vor das höchste Gericht der Welt zu bringen. Diese Menschen haben über 12 Jahre unermüdlich daran gearbeitet, ihrem Motto folgend “We are taking the world’s biggest problem to the world’s highest court!”. Dass ihr Einsatz nun Früchte trägt, gibt mir Hoffnung, dass wir systematisch und strukturell echte Veränderungen bewirken können.
Welche Hoffnungen setzt du in die Ergebnisse und was wären mögliche Konsequenzen für die Länder?
Ich hoffe, dass festgestellt wird, dass Staaten rechtlich bindende Verpflichtungen haben, entschieden gegen die Klimakrise vorzugehen und ihre historische Verantwortung anzuerkennen.
Ein zentrales Ergebnis könnte sein, dass das Gericht klarstellt, was Staaten hätten vermeiden müssen: die Klimakrise weiter anzuheizen. Die Konsequenzen wären gewissermaßen die „Strafen“ für begangene Fehler, mit klaren Verpflichtungen für die Zukunft: Staaten müssten sofort den Ausbau und die Nutzung fossiler Energieträger stoppen und sich rechtlich binden, dies auch zukünftig nicht mehr zu tun. Darüber hinaus könnten Maßnahmen wie öffentliche Entschuldigungen, finanzielle Entschädigungen, technische Unterstützung oder der Aufbau von Frühwarnsystemen gefordert werden.
Besonders wichtig wären jedoch finanzielle Entschädigungen, um die durch die Klimakrise betroffene Länder zu unterstützen. Zudem müssten Lösungen geschaffen werden, damit pazifische Inselstaaten bei steigendem Meeresspiegel nicht ihre Hoheitsrechte und staatliche Souveränität verlieren.
Eine Vielzahl an Ländern und Organisationen haben in Den Haag ihre Stimmen eingebracht. Wie hast du diese breite Beteiligung erlebt?
Dass über 100 Länder und internationale Organisationen vor dem Internationalen Gerichtshof gesprochen haben, unterstreicht das globale Interesse und die immense Bedeutung dieses Themas für alle Staaten. Besonders bewegend war, dass viele karibische, lateinamerikanische und pazifische Staaten zum ersten Mal vor dem Gerichtshof erschienen sind – darunter auch vier junge Menschen, die über Jahre hinweg an dieser Kampagne gearbeitet haben. Es war ein einzigartiger Moment, der die Stärke der Bottom-Up-Bewegung im Gerichtssaal sichtbar gemacht hat.
Ein Vorbild dafür war der Atomwaffenfall in den 1990er Jahren, bei dem Betroffene von den Folgen amerikanischer Atomwaffentests berichteten und damit die Richter*innen nachhaltig beeinflussten. Ähnlich wie damals haben nun Menschen vor dem Gerichtshof direkt über die Auswirkungen der Klimakrise gesprochen. Ihre persönlichen Berichte hatten einen spürbaren Effekt. Vishal Prasad, Campaign Director der PISFCC, erzählte die Urpsrungsgeschichte dieser Initiative und unterstrich die Wichtigkeit dieses Falls für die Rechte von jungen Menschen im Pazifik und weltweit. Wir hätten im Gerichtssaal eine Stecknadel fallen hören können, und auch die Richter*innen waren sichtlich bewegt von seinem Beitrag.
Du warst ja auch auf der Klimakonferenz COP29 und hast dich dort gemeinsam mit den Initiator*innen des Klimaverfahrens, Studierende aus dem pazifischen Raum, für den Fall eingesetzt. Wurdet ihr vor Ort in Azerbaijan gehört?
Es war uns vor allem sehr wichtig das politische und Medieninteresse für den Fall aufrechtzuerhalten. Dafür haben wir einen Aktionstag am Menschenrechtstag während der COP organisiert mit Bannern, auf denen „Taking the World’s Biggest Problem to the World’s Highest Court“ stand. Es war eine Mischung aus hoffnungsvollen Optimismus und dem Bedürfnis, unsere Wut und Enttäuschung loszuwerden. Es ist außerdem entscheidend, dass die UNFCCC von diesem Fall weiß, da sie die Arbeit der Staaten in der Zukunft nachhaltig prägen wird.
Wir haben vor Ort auch mit anderen Initiatoren von Klimafällen darüber gesprochen, wie dieser Fall die strategische Ausrichtung künftiger Klimaprozesse beeinflussen könnte. Denn auch andere Klima- und Menschenrechtsthemen könnten unter dem Dach dieses Falls ein symbolisches “Zuhause” finden.
Einige Staaten, darunter auch die USA, haben argumentiert, dass sich keine rechtlichen Verpflichtungen aus der Klimakrise ableiten lassen. Wie stehst du zu diesen Argumenten?
Diese Argumente sind für mich nichts anderes als feige politische Ausreden, die versuchen, Verantwortung zu umgehen. Solche Positionen werden oft durch juristische Winkelzüge und „legal acrobatics“ untermauert, um die eigentliche Dringlichkeit der Klimakrise zu verschleiern. Es werden Interpretationen so verdreht, dass sie sich ihrer Verantwortung entziehen können. Es ist wichtig zu betonen, dass solche Meinungen nur von einer kleinen Minderheit vertreten werden. Sie stehen damit ziemlich allein und isoliert da.
Und gerade deshalb ist der Internationale Gerichtshof auch so wichtig: In Den Haag gibt es einen Raum, in dem Staaten nicht einfach tun können, was sie wollen, sondern zur Verantwortung gezogen werden. Der Zeugenstand zum Beispiel, den wir mit initiiert haben, war eine Möglichkeit, diese Verantwortung greifbar zu machen. Er wurde eingerichtet, um sicherzustellen, dass die Stimmen derjenigen gehört werden, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Menschen aus aller Welt konnten ihre Botschaften an das höchste Gericht senden und ihre Perspektiven direkt in dieses historische Verfahren einbringen.
Wenn das Gericht zu dem Schluss kommt, dass Staaten umfassendere rechtliche Verpflichtungen zum Klimaschutz haben, wie könnte dies die internationale Klimapolitik langfristig deiner Meinung nach verändern?
Ein solches Urteil könnte entscheidende Lücken im aktuellen System schließen, insbesondere in Bezug auf Gerechtigkeit, Fairness und Chancengleichheit – Prinzipien, die laut der Oxford-Professorin Lavanya Rajamani dringend gestärkt werden müssen. Es würde klare Maßstäbe setzen, was von Staaten rechtlich erwartet wird und könnte dazu beitragen, Klimaschutz schneller und vor allem fairer zu gestalten.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis wäre, dass es eindeutiger wird, wenn Länder völkerrechtswidrig handeln. Ein solches Urteil hätte nicht nur moralisches Gewicht, sondern würde auch Konsequenzen sicherstellen, wenn Staaten ihren rechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Das könnte die Dynamik der internationalen Klimapolitik erheblich verändern und den Druck auf Staaten erhöhen, ambitionierter und verantwortungsbewusster zu handeln.
Wie geht es jetzt weiter? Wann werden Entscheidungen getroffen und welche nächsten Schritte stehen an?
Die Ergebnisse des Verfahrens erwarten wir voraussichtlich im Sommer. Wir sind gespannt, ob das Gericht die Stimmen junger Menschen und der besonders betroffenen Inselstaaten ernst nehmen wird. Ich bin vorsichtig optimistisch, denn auch den Richter*innen ist bewusst, wie viele Augen auf ihnen und ihre Entscheidung in diesem wegweisenden Fall gerichtet sind.
Gibt es zum Schluss noch eine besondere Botschaft, die du den Leser*innen unseres Blogs mit auf den Weg geben möchtest?
Auf jeden Fall! Egal wie groß die Vision ist, gemeinsam könnt ihr es schaffen – egal wie weit ihr vielleicht denkt, vom “Zentrum der Macht” entfernt zu sein. Eure Stimme zählt und gemeinsam können wir große Veränderungen hin zu Klimagerechtigkeit schaffen.